parasitäres* prinzip

 

Was ist das Parasitäre* Prinzip?

1. Um einen Anfang zu setzen: Wir befinden uns in einer vorgegebenen Situation, die in unserem Umfeld stattfindet. Neben der Menge von Dingen, die um uns herum und täglich geschehen, gibt es eine Situation, auf die wir aufmerksam werden. Sozusagen eine Para-Situation, mit der wir uns konfrontiert sehen, da sie anders als gewohnt in Erscheinung tritt. Wir nehmen das andere wahr, doch im Dickicht der Ereignisse und Normen läuft es Gefahr, dass man es aus den Augen verliert. Die Dinge gehen ihren Gang, die Situation ist längst Ereignis, vielleicht schreibt sie sich in die Erinnerung fest.

Eine Form der Protokollierung von Situationen und der Navigation in diesem Ereignismeer, ist der Gebrauch der leeren Karte ¹. Ihrer topographischen Anordnung nach, ist die leere Karte funktionslos, schließlich – ihr Name sagt es bereits – ist sie leer. Ebenso sind die außenstehenden Koordinaten nicht bestimmten Punkten zugeordnet, sondern verweisen auf vage, ungewisse Bereiche. Aufgrund dieser topographischen Ungebundenheit entsteht ein Freiraum für Handlungsmöglichkeiten, ein Spielraum des Blicks und eine Freiheit des Navigierens.

Paradoxerweise bietet die Karte dennoch eine Orientierungshilfe. Aber nicht eine an bestehenden Koordinaten und Systemen, sondern vielmehr eine Leitplanke für Erfahrungen und Vermögen zur Unterscheidung. Dadurch, daß die Leere keinen bekannten Wert enthält, ist der Benutzer zwangsläufig ein Fremder im System und nimmt die Dinge um sich herum mit einem fremden Blick wahr. Zur Orientierung ist eine distinktive Methodik notwendig. Das Parasitäre* Prinzip orientiert sich anhand der leeren Karte.

2. Wir nennen die Methode das groteske Werkzeug. Das Groteske bezeichnet etwas Randständiges, etwas, das sich nicht im Inneren der kulturellen Formation bewegt, sondern den Rahmen dieser Kultur beschreibt. Das Groteske beschreibt die Darstellung des zugleich Monströs-Grausigen und Komischen, des gesteigert Grauenvollen, welches gleichzeitig lächerlich erscheint. Der groteske Stil ist dadurch gekennzeichnet, daß er scheinbar Unvereinbares verbindet. Diese ambivalenten Marginalien aufzuspüren und ins Zentrum des Interesses zu rücken, ist die Aufgabe des grotesken Werkzeugs. Mit dem auf diese Weise herbeigeführten Vermögen zu Unterscheiden, ist es möglich, mit dem Sinnbild der leeren Karte die bestehende kulturelle Ordnung kritisch zu reflektieren. Das Parasitäre* Prinzip konstruiert seine Anfänge aufgrund fremder und ambivalenter Randerscheinungen innerhalb des näheren gesellschaftlichen Umfelds.

3. Nun setzt die produktive Phase ein. Ist das Thema gefunden, tritt das zweite Werkzeug in Kraft: das poetische Werkzeug. Das Wort »poiesis«, in seinem Ursprung verwendet, bezeichnet Machen, Verfertigen und steht für ein freies Schöpfertum. Das poetische Werkzeug hebt die klare Trennung von gesicherten Fakten und ungesicherten Fiktionen auf: Faktische Information und fiktive Erzählung beginnen sich zu vermischen. In diesem sich neu formierenden Konstrukt entsteht die Grundlage für den Imaginationsraum, ein flexibles gedankliches Gebilde, das den Blickwinkel auf die eigene Lebenswelt, auf Identität, Heimat, Alltag und Landschaft verschiebt. Für das Parasitäre* Prinzip stellt der Imaginationsraum einen immateriellen Mehrwert dar.

Das Parasitäre* Prinzip hebt die Trennung von Fakt und Fiktion zugunsten des Imaginationsraums und des daraus resultierenden immateriellen Mehrwerts auf. Das poetische Werkzeug leitet den schöpferischen Prozess ein, und die anfängliche Idee wird in eine Gestalt transformiert. Das ästhetische Medium ist frei wählbar und nicht im Vorfeld definiert. Es kann ein Buch sein oder ein Text, eine Ausstellung oder ein Bild, Installation oder Performation, … Entscheidend ist, daß mit dem Akt des Transformierens ein Handeln einsetzt, welches nach Außen in Erscheinung tritt. Die Handlung verdeutlicht das kritische Reflektieren einer kulturellen Erscheinung. Das Auftauchen des Parasitären* Prinzips durch die Handlung gebiert wiederum eine neue Para-Situation, die ein Kippmoment zwischen Verführung und Ekel erzeugen kann.

Das Auftauchen wird schließlich als Markierung in der leeren Karte verzeichnet, wodurch es einen Ort der Erinnerung erhält. Der neu kartographierte Raum der leeren Karte wird zum poetischen Raum. Das Kartographieren bietet eine Möglichkeit der individuellen Welterfahrung und füllt die mit Fakten versehene Leere mit Erzählungen, mit privatem Raum. Die Arbeitsweise des Parasitären* Prinzips generiert ästhetisches Handeln und kann ein Kippmoment zwischen Anziehung und Abstoßung auslösen.


¹  Die Geschichte der leeren Karte beruht auf der Erzählung Hunting of the Snark von Lewis Carroll (1876). Hier wird von einer Ozeankarte ohne jede Eintragung berichtet. Allein der Untertitel OCEAN CHART und die Worte NORD, OST, WEST, LÄNGE, BREITE, ÄQUATOR, HEISSE ZONE, SÜDPOL, TAG- UND NACHTGLEICHE, usw., die den Rahmen außerhalb der eigentlichen Karte beschreiben, lassen die Leere im Innern zur Kartographie werden. Auch die üblichen Angaben zu MAßSTAB IN MEILEN lassen keine Konkretion in der Vermessung des Ozeans zu, da sich die Angaben auf die Punktfolge … . … beschränken. Die Mannschaft des Kapitäns, der diese Karte als Navigationshilfe mit an Bord brachte, war überglücklich mit dieser Leere; konnte doch selbst der einfachste Seemann diese Karte verstehen. Die perfekte und absolute Leere wird gefeiert und als neu und unkonventionell begrüßt, bricht sie doch mit den alten Konventionen der ozeanographischen Vermessung. Nicht Orientierung wird hier angestrebt, sondern Ortlosigkeit. Ozean als Ozean, und der Kapitän verlässt sich nur auf ein Zeichen, um seine Glocke zu läuten. Ein Geräusch, das in der trostlosen Weite des Meeres lediglich eine akustische Spur der Anwesenheit hinterlässt… Trotz der vermeintlichen Unsinnigkeit dieser Karte, kommt sie doch der Erfahrung auf dem Meer näher als jede noch so genaue Kartographie. Mitten auf dem Meer sind Längen- und Breitengrade, Küstenstreifen und Inseln vage Vermutungen und Karten bleiben wissenschaftliche Abstraktionen auf höchstem Niveau. Das Gefühl der beeindruckenden Einsamkeit angesichts der grenzenlosen Weite wird in Carrolls Karte wunderbar eingefangen und vermittelt. Die Karte ist ein Sinnbild, ein Erfahrungsbild für die subjektiv erfahrbare Oberfläche. Frei von aller Beschriftung kann sie neu beschrieben und mit Zeichen versehen werden und bietet somit die Möglichkeit der individuellen Welterfahrung.
(vgl. Michael Glasmeier, Leere – Erfahrung – Poesie; S.77; in: Paolo Bianchi/Sabine Folie (hrsg.), Atlas Mapping; Wien: Turia+Kant, 1997)